Die Juden in Zwingenberg

Artikel im Bergsträßer Anzeiger vom 30. August 2003

Vor 100 Jahren: Die neue Zwingenberger Synagoge wird eingeweiht
Der Verein Arbeitskreis Zwingenberger Synagoge erinnert mit einem Lichtbildervortrag an die zerstörte jüdische Gemeinde

von Dr. Fritz Kilthau

Freitag, 11. September 1903, war ein besonderer Tag für die jüdische Gemeinde in Zwingenberg: Ihre neue Synagoge wurde feierlich eingeweiht. Das Bergsträßer Anzeigeblatt berichtete am 17. September 1903 von diesem Ereignis: „In feierlicher Weise wurde am verflossenen Freitag die neuerbaute Synagoge Ihrer Weihe übergeben. Nachmittags 2 Uhr traf der Grhzgl. Landesrabbiner Dr. Marx aus Darmstadt begrüßt von dem Vorstand unter laut ertönenden Böllerschüssen ein. Punkt 2 Uhr eröffnete die Kapelle Rhein durch einen Choral auf dem Marktplatz den Festakt. Alsdann trugen die drei Vorstände die zierlich geschmückten Thorarollen aus dem Hause des ersten Vorstehers, David Wachenheimer, mit welchen der Festzug eröffnet und mit klingendem Spiel bis zur neuen Synagoge begleitet wurde.“

Leider konnte bisher nicht geklärt werden, ob David Wachenheimer (1852 - 1919) seinen Wohnsitz in der ersten Synagoge Zwingenbergs hatte. Bereits 1861 erwarb die jüdische Gemeinde für 1800 Gulden das damals kleinere „Haus Ritzert am Stadtbrunnen“ (heute „Am großen Berg 2“), in dem sie im oberen Stock die Synagoge und darunter die Lehrerwohnung einrichtete. Die jüdische Gemeinde Zwingenbergs war nicht klein (1861 72 Mitglieder, 1871 54, 1900 56), so dass man den Wunsch nach einem größeren Gebäude gut verstehen kann.

Als der Festzug in der Wiesenstraße 5, dem Ort der neuen Synagoge, ankam, begannen die dortigen Einweihungsfeierlichkeiten. Das Bergsträßer Anzeigeblatt berichtete weiter: „Dort angekommen überreichte ein elfjähriges Mädchen, Johanna Rothensüs, in kurzen, sinnreich schön gesprochenen Worten dem Baumeister Schach (wahrscheinlich ist hier der Bauaspirant Schuch gemeint, der die Baupläne ausführte, F. Kilthau) den Schlüssel, welchen derselbe in gleicher Weise dem Vorstand Wachenheimer und dieser wieder in die Hände des Rabbiners gab, welcher die Pforte zum Einzug öffnete. Unter den Festteilnehmern bemerkten wir unseren Herrn Bürgermeister Zerweck, Ortsvorstand, Kirchenbehörde, Herrn Oberamtsrichter, Amtsrichter und sonstige wohllöbl. Mitbürger. Herr Geh. Rat Gros aus Bensheim ließ sich aus Gesundheits-Rücksichten und der ungünstigen Witterung halber (das Darmstädter Tageblatt schrieb von Sturm und heftigem Unwetter an diesem Tag, F. Kilthau) kurz vor Beginn der Festlichkeit wegen seinem Nichterscheinen entschuldigen. Nachdem in dem prächtig erbauten Gotteshause die gewünschte Stille herrschte, trug Cantor Prog in Begleitung mehrerer guteingeübter Mitglieder das Eintrittsgebet, Mah Tauwu (nach Auskunft der jüdischen Gemeinde Darmstadt „Ma towu ohalecha Jakob“ – „wie schön sind deine Zelte, Jakob“, Fritz Kilthau) in wohltuenden Tönen vor. Alsdann folgte Fest-Gottesdienst. Hierauf die tief zu Herzen gehende einstündige Rede des Herrn Dr. Marx und hieran knüpfte sich das Schlussgebet. Die Festlichkeit, die einfach gehalten war, verlief zur allgemeinen Befriedigung. Dem Baumeister, Vorständen und größten Teil der israel. Mitglieder gebühren wegen der sich ganz besonders gegebenen Mühen und Fleiß an dieser Stelle noch besten Dank. Möge das Haus den Anforderungen der israel. Gemeinde gerecht werden und zum Segen gereichen.“
Die neue Synagoge wurde in dreijähriger Bauzeit durch die Zwingenberger Maurermeister Daniel und Heinrich Arnold (Vater und Sohn) errichtet, die Gesamtkosten betrugen 17000 Mark. Der stattliche Bau (Länge der Straßenfront 17,7 m, Hausbreite 8,2 m) war durch das Treppenhaus mit Haupteingang und Hinterausgang in zwei Teile unterteilt: Im Ostteil befand sich die eigentliche zweigeschossige Synagoge mit hölzernen Betpulten und Bänken, ausgerichtet zur östlichen Stirnwand. An dieser Ostwand wurden - durch einen Vorhang verdeckt - die Thorarollen in einem Schrein aufbewahrt. Die Belüftung dieses Schreins durch eine kleine kreisförmige Wandöffnung zur Vermeidung von Stockflecken auf den Thorarollen ist noch heute von außen zu sehen. Vor dem Thoraschrein stand das Lesepult, auf dem die Thorarollen vom Vorsänger zum Vorlesen entrollt werden konnten. Die Frauen verfolgten den Gottesdienst – von den Männern getrennt – auf der Empore, die vom Treppenhaus her erreicht wurde. Östlich des Treppenhauses lag unten die Schulstube und die Wohnung der „Schawwesgoi“ (Sie ist eine Nichtjüdin, die im jüdischen Haushalt am Sabbat diejenigen Arbeiten verrichtet, die den Juden an diesen Tagen verboten sind), darüber die Wohnung des Vorsängers/Lehrers. Von außen war das Gebäude früher leicht als Synagoge auszumachen: Die Fenster im Obergeschoß erinnerten mit ihren großen hufeisenförmigen Rundbögen an einen orientalisch– maurischen Baustil, der beim Bau von Synagogen zur damaligen Zeit oftmals Vorbild war: Er sollte auf das Ursprungsland des Judentums im Nahen Osten hinweisen.

Über dem Haupteingang waren die 10 Gebote und das Bibelzitat „Wisse, vor wem du stehst!“ in hebräischen Schriftzeichen eingemeißelt. Davidsterne waren in die Vorgartenpfosten eingraviert; ein weiterer großer Davidstern war in der Spitze des östlichen Schildgiebels eingemauert. Bis zur Machtergreifung durch die Nazis 1933 konnten die Zwingenberger Juden – so weit wir wissen - friedlich ihre Feste in der Synagoge feiern. Noch im Oktober 1932 berichtete der „Bergsträßer Bote“, die Zwingenberger Lokalzeitung, in drei Artikeln von den damaligen Feiern in Zwingenberg zum jüdischen Neujahrsfests, zum Versöhnungsfests und zum Laubhüttenfest.

Nach den ersten Aktionen gegen die jüdischen Zwingenberger 1933 emigrierten einige von ihnen, andere blieben trotz Boykott, Hetze und Verfolgung. Auch in Zwingenberg versuchten die Nationalsozialisten in der so genannten Reichskristallnacht im November 1938, die Synagoge in der Wiesenstraße zu zerstören. Dass sie erhalten blieb, ist lediglich einem besonderen Umstand zu verdanken: Der Sohn der Schawwesgoi Frau Anthes hatte sich am 8. November 1938 das Leben genommen; er lag – der damaligen Sitte gemäß – bis zum Begräbnis aufgebahrt in der ehemaligen Lehrerwohnung der Synagoge. In der Nacht vom 9. zum 10. November 1938 erreichten die Nachbarn nach heftigem Wortwechsel, dass die angerückten SA-Leute kein Feuer legten und zunächst unverrichteter Dinge abzogen. Doch die SA gab nicht auf: Die Fensterscheiben der Synagoge wurden eingeworfen, die über dem Haupteingang eingemeißelten 10 Gebote und das Bibelzitat abgeschlagen und die Davidsterne aus den Vorgartenpfosten herausgehauen. Die Kultgegenstände der Synagoge waren schon vor diesen Ereignissen nach Frankfurt/Main ausgelagert worden.

Das Haus sollte später gesprengt werden; es wurde dann aber vom letzten Juden in Zwingenberg, Moritz Schack, für 6000 RM noch am 10. November 1938 an Privat verkauft. Nach dem Kriege musste der Käufer den gezahlten Kaufpreis noch ein zweites Mal aufbringen. Leider wurden 1964 an der bis zu diesem Zeitpunkt vermutlich noch im Original erhaltenen Fassade erhebliche Veränderungen vorgenommen. Von außen erinnert heute nur noch der östliche, durch Blendarkaden gegliederte Schildgiebel mit dem in der Spitze befindlichen Davidstern und Spuren von zerstörten Davidsternen in der Einfriedung an die frühere Nutzung des Gebäudes. Glücklicherweise ist die ehemalige Zwingenberger Synagoge heute als Kulturdenkmal ausgewiesen und steht unter Denkmalschutz.

Der im Juni 1999 gegründete Verein „Arbeitskreis Zwingenberger Synagoge e.V.“ setzt sich dafür ein, dass das Gebäude der früheren Synagoge wieder kulturell genutzt wird im Gedenken an die ehemalige jüdische Gemeinde Zwingenbergs – eine Möglichkeit hierzu wäre die Errichtung eines Migrations-Museums, das auch die Geschichte der „Auswanderung“ der Juden aus unserem Gebiet umfasst. Weitere Informationen zum Gebäude der ehemaligen Synagoge findet man unter www.arbeitskreis-zwingenberger-synagoge.de.

Quellen:
- Paul Arnsberg, „Die jüdischen Gemeinden in Hessen – Anfang, Untergang, Neubeginn“,
Frankfurt/Main – Darmstadt, 1971-1973, S. 451 ff
- Bergsträßer Anzeigeblatt vom 5. September 1903
- Bergsträßer Anzeigeblatt vom 17. September 1903
- Bergsträßer Anzeigeblatt vom 11. November 1938
- Fritz Kilthau, „Mitten unter uns – Zwingenberg an der Bergstraße von 1933 bis 1945“,
Geschichtsblätter Kreis Bergstraße, Sonderband 21, Lorsch 2000
- Rudolf Kunz, „Statistik der Juden 1774-1939 im Gebiet des heutigen Kreises Bergstraße“,
Geschichtsblätter Kreis Bergstraße, Band 15, S. 285f, Lorsch 1982
- Norbert Mischlich, „Die Synagoge in Zwingenberg a.d.B.“, Geschichtsblätter Kreis
Bergstraße, Band 10, S. 250 – 255, Lorsch 1977
- Norbert Mischlich, „Die israelitische Gemeinde“. In: „700 Jahre Stadtrechte 1274-1974 /
Chronik von Zwingenberg an der Bergstraße“, herausgegeben vom Geschichtsverein
Zwingenberg in Zusammenarbeit mit dem Magistrat der Stadt, S. 373 – 390,
Zwingenberg 1974
- Walter Möller, „Geschichte der Stadt Zwingenberg a.d.B.“, S. 105ff, Zwingenberg 1910

Anlässlich des 100. Jahrestags der Einweihung der letzten Synagoge in Zwingenberg am 11. September 1903 und im Gedenken an die zerstörte jüdische Gemeinde Zwingenbergs lädt der Verein „Arbeitskreis Zwingenberger Synagoge e.V.“ am Mittwoch, 10. September, 20 Uhr, zu einem Bildervortrag „Die Juden in Zwingenberg“ ins evangelische Gemeindezentrum, Darmstädter Straße 24, ein. Der Vorsitzende des Vereins, Dr. Fritz Kilthau, zeigt u.a. bisher unveröffentlichte Bilder ehemaliger Juden aus Zwingenberg, die er von deren Nachfahren erhalten hat.

Artikel des Bergsträßer Anzeiger vom 12. September 2003

Opfer des NS-Regimes sind auch die Überlebenden
AK Synagoge-Vorsitzender und "Mitten unter uns"-Autor Dr. Fritz Kilthau erinnert an die "Juden in Zwingenberg"

40 jüdische Einwohner zählte Zwingenberg 1933. 16 von ihnen brachten die finstersten zwölf Jahre in der deutschen Geschichte den Tod. Sie kamen in den Konzentrationslagern um, erlagen den Entbehrungen auf der Flucht oder starben durch eigene Hand. Doch ihre Leiden sind unvergessen. Dr. Fritz Kilthau hat ihnen wie auch allen Verfolgten des Naziregimes aus Zwingenberg sein Buch "Mitten unter uns" gewidmet und ihre Schicksale aufgezeichnet, ihre Namen sind auf dem Schaukasten des Arbeitskreises Zwingenberger Synagoge am Rathaus nachzulesen.

Doch nicht nur der Toten ist zu gedenken. "Opfer sind auch die Überlebenden", so Dr. Fritz Kilthau am Mittwochabend im evangelischen Gemeindezentrum bei seinem Vortrag "Die Juden in Zwingenberg" aus Anlass des 100. Jahrestages der Einweihung der neuen Synagoge am 11. September 1903. Denn das schreckliche Schicksal ihrer Angehörigen hätte das Leben der Hinterbliebenen sehr stark geprägt, bis hin zu den Kindern und Enkeln.

"Ich kann Ihnen nicht angemessen meine tiefe Dankbarkeit und Bewunderung für Ihre Arbeit ausdrücken, da Sie eine enorme Lücke im Verständnis meiner eigenen Vergangenheit füllen", hatte einer der Nachkommen Dr. Kilthau geschrieben. Dass die Kinder und Enkel sich diesen mit Leid verbundenen "Schlüsselerlebnissen" (Professor Dr. Joan Haahr) stellten, hat dem Autor von "Mitten unter uns" nicht nur bei den Recherchen zu seinem Buch entscheidend weitergeholfen. Familienfotos wurden bereitwillig zur Verfügung gestellt, E-Mail-Korrespondenzen und vor allem persönliche Begegnungen erhellten zudem wichtige Details über die weiteren Lebenswege der Zwingenberger Juden im Exil, in Palästina, den USA und in Mexico, wohin es Jack Leo Schack, den "Fußballer", wie er älteren Zwingenbergern noch bekannt ist, mit seiner Familie verschlug.

Über die Schacks aus der Obergasse 3 - Martha und Moritz Schack, die Eltern von Leo, Irma, Lina, Susanne und Margot waren die letzten Juden, die Zwingenberg 1939 verließen und nach Frankfurt übersiedelten - ist beispielsweise durch die Mithilfe der Familienmitglieder bei Dr. Kilthaus Forschungen relativ viel bekannt. Während Moritz Schack in Auschwitz umkam, seine Frau Martha sich wahrscheinlich das Leben nahm - beider Gräber befinden sich auf dem Neuen Jüdischen Friedhof in Frankfurt (nur Martha Schack ist in Frankfurt begraben; auf ihrem Grabstein ist eine Gedenkinschrift für Moritz Schack angebracht - Fritz Kilthau) - gelang es den fünf Kindern, sich auf zum Teil abenteuerlichen Wegen nach Amerika durchzuschlagen. Norbert Gerard Schack, Leo Schacks Sohn, und Professor Dr. Joan Haahr, Irma Schacks Tochter, haben zudem 2000 beziehungsweise 2001 die Bergstraße besucht und im persönlichen Gespräch weitere Aufschlüsse gegeben.

Dr. Claude Abraham, Enkel von Heinrich und Clothilde Wachenheimer aus der Pfarrhausgasse 1, war ebenfalls im Jahr 2001 in Zwingenberg und seinem Geburtsort Lorsch zu Gast; Ilse Schwartz geborene Wolf, Tochter von Sally und Amanda Wolf, die auf dem Marktplatz ein Lederwarengeschäft betrieben, war mit ihrem Ehemann Ray Schwartz bereits mehrere Male in Zwingenberg. Fotos dieser Begegnungen hatte Dr. Fritz Kilthau seinem Vortrag am Mittwochabend hinzugefügt - Bilder, die Brücken schlagen über den Abgrund der zwölf Jahre Naziterror hinweg.

"Wir wollen die Spurensuche weiterführen", hatte der Autor schon in seiner Vorbemerkung des im Auftrag der Stadt recherchierten und im Jahre 2000 erschienenen Buches "Mitten unter uns" angekündigt. Der 1999 gegründete Arbeitskreis Zwingenberger Synagoge, dessen Vorsitzender Dr. Fritz Kilthau ist, will zudem mit dem Erwerb des früheren Gebetshauses in der Wiesenstraße, das durch glückliche Umstände in der Reichspogromnacht im November 1938 nicht zerstört wurde und seitdem in Privatbesitz ist, dazu beitragen, dass die Erinnerung an die Zwingenberger Juden, die alle im gesellschaftlichen Leben des Städtchens integriert waren, weiterlebt und auch den nachfolgenden Generationen präsent bleibt.

Die Zeit drängt. Schon 1964 sind wesentliche Elemente der alten Fassade einem Umbau zum Opfer gefallen. Zwar steht das Gebäude heute als Kulturdenkmal unter Denkmalschutz, doch wie es aussieht, könnten gerade weitere historische Details, die Reste der 1938 in der Pogomnacht herausgemeißelten Davidsterne an den Vorgartenpfosten, bei Arbeiten verschwinden, weshalb sich Dr. Kilthau gleich gestern in der Wiesenstraße umsehen wollte.

Unvorhergesehenes, diesmal im positiven Sinn, ergab sich am Mittwochabend dann noch am Schluss des Vortrags: Anneliese Hauck aus Zwingenberg, Enkelin des Bauassessors Philipp Schuck, der sich ab 1900 mit den Plänen für die Synagoge beschäftigt hatte, hatte den umfangreichen Nachlass ihres Großvaters durchgesehen und stellte dem Arbeitskreis Zwingenberger Synagoge Originaldokumente aus dem privaten Fundus zur Verfügung. Bessere Hände für die wertvollen Archivalien dürften sich kaum finden. nj

zurück