Gedenkrede von Fritz Kilthau am 18. November 2007

Meine Damen und Herren, liebe Freundinnen und Freunde,

12 Menschen wurden hier oben am Kirchberg am Abend des 24. März 1945 von der Gestapo ermordet. Die Nazis haben damals umgebracht Rosa Bertram, Walter Hangen und Erich Salomon aus Worms, Gretel Maraldo aus Offenbach – sie wurde bei einem Fluchtversuch nahe der Ernst-Ludwig-Straße erschossen - , Lina Bechstein aus Kriegsheim bei Worms, Jakob Gramlich aus Bonsweiher im Odenwald, die beiden Franzosen Eugene Dumas und Lothaire Delaunay, den Niederländer Frederik Roolker sowie drei weitere, nicht identifizierbare Opfer.
Diese 12 Ermordeten stehen stellvertretend für die Millionen von Opfer, die das Naziregime in den 12 Jahren seiner Schreckensherrschaft in Europa hinterließ – sie stehen für die deportierten und getöteten Juden, die ermordeten politischen Gegner – Kommunisten, Sozialdemokraten und andere - , sie stehen für die ins KZ verschleppten Pfarrer und Mitglieder der Zeugen Jehovas, für die in Deutschland umgekommenen Zwangsarbeiter, für die ermordeten Sinti und Roma, für die Opfer in den von den Nazis besetzten Ländern.

Meine Damen und Herren,
in ganz Deutschland trauern heute Menschen an diesem so genannten „Volkstrauertag“ um ihre Angehörigen, Bekannten und Freunde, die während der NS-Herrschaft als Verfolgte und Opfer, aber auch als Soldaten ums Leben gekommen sind. Man kann sehr gut verstehen, dass selbst nach einer so langen Zeit noch Trauer herrscht bei den Familien der Betroffenen. Aber, ich denke, dieses Gedenken darf sich nicht nur auf die Trauer um nahe stehende Personen beschränken, sondern es muss gleichzeitig gefragt werden: Wie konnte es dazu kommen, dass weltweit 50 Millionen Menschen durch das barbarische Hitler-Regime ums Leben kamen? Was können wir heute tun, um solche Verbrechen gegen die Menschheit zu verhindern? Wie können wir dem Erstarken rechtsextremer Parteien und rechtsextremer Gruppierungen entgegenwirken? Was können wir heute generell dazu tun, um Vorurteile gegenüber Menschen anderer Religionen, anderer Nationalitäten oder anderer Hautfarben abzubauen?

Bundesweite Studien zeigen in erschreckender Weise, dass rechtsextreme Einstellungen und Verhaltensmuster kein Randphänomen sind, sondern in der Mitte unserer Gesellschaft verwurzelt sind, quer durch alle Bevölkerungsschichten, Bundesländer, Generationen und auch Parteien:
Nach einer Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung stimmen 27% der Deutschen ausländerfeindlichen Aussagen zu, 39% meinen, dass die Bundesrepublik „durch die vielen Ausländer in einem gefährlichen Maß überfremdet“ist. 15% stimmen der Aussage zu, dass „die Deutschen eigentlich anderen Völkern von Natur aus überlegen sind“. 35% meinen: „Wenn Arbeitsplätze knapp werden, soll man die Ausländer wieder in ihre Heimat zurückschicken“,
9% der Befragten haben ein geschlossenes rechtsextremes Weltbild, 15% meinen, es sollte einen Führer geben, „der Deutschland zum Wohle aller mit starker Hand regiert“. 26% wünschen sich eine „einzige starke Partei, die die Volksgemeinschaft insgesamt verkörpert“.
Zum Thema Antisemitismus: 18% aller Befragten gaben an, dass „der Einfluß der Juden zu groß“ ist. 14% meinten, die Juden arbeiteten mit üblen Tricks, um das zu erreichen, was sie wollten.

Warum vertreten Menschen rechtsextremes Gedankengut? Was kann man dagegen tun?
Die Forscher unterstützen mit ihrer Untersuchung die These, dass ein wesentlicher Grund für diese menschenfeindlichen Einstellungen und diskriminierenden Verhaltensweisen Ängste hinsichtlich der materiellen und sozialen Absicherung der Befragten ist. Wer Angst um seine Arbeitsstelle haben muss, keine Lehrstelle oder keinen Job hat, ist gefährdeter. Fazit: Wirtschaft und Politik müssen sich davor hüten, durch eine mangelhafte Sozialpolitik Situationen entstehen zu lassen, in der Menschen entwurzelt und deklassiert werden und in materielle Not geraten. Gerade solche Lebensbedingungen können Menschen dafür anfällig machen, ihr Heil in rechtextremen Ideen zu suchen und Sündenböcke unter den Schwächsten der Gesellschaft auszumachen, z.B. den Ausländern und Asylsuchenden.
Hierbei ist allerdings sehr wichtig, wie die Betroffenen ihre sozialen Probleme verarbeiten. Welche demokratischen Erfahrungen hatten sie bisher gemacht, bevor sie in die Arbeitslosigkeit rutschten? Wie war das politische Engagement, wie die Einbindung in die Gesellschaft? Starke demokratische Überzeugungen – durch Elternhaus, Schulen, Vereine, Jugendarbeit geprägt – können vor rechten Rattenfängern schützen.
Die Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung kam zusätzlich zu dem Ergebnis, dass Personen, die politisch nicht mitentscheiden können, ihre Eltern als autoritär und lieblos empfunden haben und ein geringes Selbstwertgefühl besitzen, für rechtes Gedankengut zugänglicher sind.

Ich denke, es gibt viele Möglichkeiten und Aktionsbereiche, um gegen rechte Meinungen und rechte Gruppierungen vorzugehen.
Zwei Beispiele: Mir erscheint die Aufklärung vor allem Jugendlicher über die Ziele der Neonazis sehr wichtig. Antifaschistische Stadtführungen können hilfreich sein – Jugendliche erfahren hierbei, was während der NS-Zeit direkt nebenan passierte, wer verhaftet wurde und ins KZ kam, was mit den Juden und anderen Verfolgten geschah. Wir haben dieses Jahr in Zwingenberg zum ersten Mal in Kooperation mit den Kirchengemeinden solche Führungen mit den Konfirmanden und Firmlingen durchgeführt und mit ihnen anschließend diskutiert – die Jugendlichen fanden die lokale NS-Geschichte äußerst interessant und sehr beeindruckend.

Das zweite Beispiel: Dort, wo rechte Gruppierungen Infostände oder Demonstrationen anmelden, sind die Kommunen gefragt. Sie dürfen sich nicht wegducken und versuchen, klammheimlich solche Ereignisse zu erlauben, wie es vor zwei Jahren bei uns in Zwingenberg und jetzt wieder in Heppenheim geschah, sondern sie müssen mit all ihren Möglichkeiten zusammen mit gewaltfreien antifaschistischen Gruppen gegen das Auftreten der Rechten vorgehen. Ausgehend von Zwingenberg haben mittlerweile 13 Gemeinden und Städte im Kreis Bergstraße die Erklärung gegen rechtsextreme Aktivitäten unterschrieben – ein kleiner, aber wichtiger Beitrag.

Gretel Maraldo, die hier am 24. März ermordet wurde, wurde von ihrer Heimatstadt Offenbach mit einem Straßennamen und einem Stolperstein geehrt. Einige Bensheimer Straßen sind zwar bereits nach NS-Opfern benannt – denken Sie an Jakob Kindinger oder Friedrich Bockius -, aber ich fände es gut, wenn man auch eine weitere Straße nach einem Opfer der Kirchbergmorde benennen würde, beispielsweise auch nach Gretel Maraldo.

Meine Damen und Herren, liebe Freundinnen und Freunde, wir dürfen es nicht zulassen, dass diejenigen Erfolg haben, die einen Schlussstrich unter die nationalsozialistische Geschichte unseres Volkes ziehen wollen, Geschichtsfälschung betreiben oder gar die NS-Verbrechen leugnen. Was von 1933 bis 1945 geschah, ist ein solcher Kulturbruch, den wir nicht aus unserem Bewusstsein verdrängen dürfen. Veranstaltungen wie diese heute früh hier am Kirchberg tragen zu dieser wichtigen Erinnerung bei.

Ich danke Ihnen.

Artikel des Bergsträßer Anzeiger vom 20. November 2007

Gedenken: Zwölf Menschen wurden kurz vor Kriegsende 1945 von den Nazis am Kirchberg ermordet
Den "rechten Rattenfängern" entgegentreten

Auerbach. Zwölf Ermordete, die stellvertretend für die Millionen Opfer des Naziregimes stehen: Am 24. März 1945 - drei Tage vor der Befreiung von Bensheim durch die Amerikaner - wurden am Kirchberg zwölf Menschen von der Gestapo erschossen. Der Pole Johann Goral überlebte schwer verletzt, der Russe Alex Romanow konnte fliehen.

Ein Verbrechen, das nicht nur die menschenverachtende Ideologie der Nazi-Diktatur vor Augen führt, sondern auch zeigt, dass Gräueltaten nicht nur weit weg in den Konzentrationslagern verübt wurden, sondern direkt vor der eigenen Haustür.

Die Grüne Liste Bensheim lädt jedes Jahr am Volkstrauertag zu einer Gedenkveranstaltung an der Stelle ein, wo die Häftlinge ums Leben kamen. 27 Menschen kamen am vergangenen Sonntag zusammen, um der Toten zu gedenken.

Redner der Gedenkveranstaltung, die musikalisch mit drei Werken an der Querflöte von Hannelore Schmanke und Antje Stach umrahmt wurde, war Dr. Fritz Kilthau, der im Jahre 1986 zusammen mit Dr. Peter Krämer das Buch "3 Tage fehlten zur Freiheit - Die Nazimorde am Kirchberg - März 1945" veröffentlicht hatte.

"Wie können wir dem Erstarken rechtsextremer Parteien und rechtsextremer Gruppierungen entgegenwirken? Was können wir tun, um Vorurteile gegenüber Menschen anderer Hautfarbe, anderer Nationalitäten oder anderer Hautfarbe abzubauen?, fragte Kilthau und las erschreckende Zahlen aus einer Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung vor (siehe "Studie...").Vor allem Ängste um die materielle und soziale Absicherung führen, so Kilthau, zu solchen menschenfeindlichen Verhaltensmustern. Wer Angst um seine Arbeitsstelle hat, keine Lehrstelle oder Job hat, ist gefährdeter.

Fazit: Wirtschaft und Politik müssen sich davor hüten, durch mangelhafte Sozialpolitik Situationen entstehen zu lassen, in der Menschen entwurzelt und deklassiert werden und in materielle Not geraten und somit für die "rechten Rattenfänger" anfällig zu sein.

"Mir erscheint die Aufklärung vor allem Jugendlicher über die Ziele der Neonazis sehr wichtig", sagte Kilthau und führte antifaschistische Stadtführungen als gutes Beispiel auf, um Jugendlichen die Ereignisse der NS-Zeit in der direkten Nachbarschaft erfahrbar zu machen.

Die Kommunen müssen reagieren, wenn rechte Gruppierungen Infostände und Demonstrationen durchführen wollen. "Ausgehend von der Bergstraße haben mittlerweile 13 Gemeinden und Städte im Kreis Bergstraße die Erklärung gegen rechtsextreme Aktivitäten unterschrieben - ein kleiner, aber wichtiger Beitrag", betonte Kilthau.

Gretel Maraldo, am 24. März 1945 am Kirchberg erschossen, wurde von ihrer Heimatstadt Offenbach mit einem Straßennamen und einem Stolperstein geehrt. In Bensheim tragen zwei Straßen die Namen von den NS-Opfern Jakob Kindinger und Friedrich Bockius.

"Ich fände es gut, wenn man auch in Bensheim eine weitere Straße nach einem Opfer der Kirchbergmorde benennen würde, beispielsweise auch nach Gretel Maraldo", sagte Dr. Fritz Kilthau. tn

Bergsträßer Anzeiger
20. November 2007

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