Der große Raub

Arbeitskreis Zwingenberger Synagoge zeigt „Der große Raub“
hr-Filmemacher dokumentieren, wie in Hessen die Juden ausgeplündert wurden

„JS“ auf der Steuerakte, das bedeutete: „Als Jude veranlagt“. Wer dieses Zeichen bekam, musste die Hälfte seines Vermögens als Reichsfluchtsteuer und Judenvermögensabgabe an den Fiskus abgeben. In dem hr-Film „Der große Raub – wie in Hessen die Juden ausgeplündert wurden“ werden die Verordnungen und „Gesetze“, die die Opfer erst all ihre Habe und am Ende meist ihr Leben kostete, ebenso dokumentiert wie das perfide Zusammenspiel zwischen Finanzbeamten und Bürgern, die jüdisches Eigentum zum Spottpreis erwarben. Der Film wird am 6. Mai (Dienstag) um 19:30 Uhr im Saal des Alten Amtsgerichts in Zwingenberg vorgeführt. Veranstalter ist der Arbeitskreis Zwingenberger Synagoge.

Der erschütternde Film, der 2002 gedreht wurde, zeichnet die Ausplünderung der Juden von 1933 bis zu den Deportationen 1941 bis 1943 akribisch nach. Vor der Filmvorführung wird der frühere hessische Finanzminister Karl Starzacher darüber berichten, wie er 1998 die hessischen Finanzämter anwies, die Akten dieses Raubzuges für wissenschaftliche Zwecke freizugeben. Im Anschluss an die Vorführung besteht Gelegenheit zur Diskussion mit den beiden hr-Autoren Henning Burk und Dietrich Wagner.

Auch nach so langer Zeit gelang es den Filmautoren, eine Reihe von Zeitzeugen zu finden, die über ihre damaligen Erfahrungen berichten, darunter Finanzbeamte und deren Opfer. Einer von ihnen war Robert Goldmann, der mit seiner Familie vor der antisemitischen Verfolgung von der Bergstraße nach Frankfurt gezogen war. In der Pogromnacht des 9. November 1938 wurde die väterliche Arztpraxis demoliert. Am Ende rettete sich Familie Goldmann durch die Auswanderung. Vom einstigen Vermögen waren nur noch zehn Reichsmark geblieben.

Erst mit der Öffnung der Finanzakten für die Wissenschaftler des Frankfurter Fritz-Bauer-Instituts zur Erforschung des Holocaust wurden die Rolle des Fikus und die Beteiligung der Bevölkerung am großen Raubzug gegen die Juden deutlich. Nachdem der Fikus mit Reichsfluchtsteuer und Judenvermögensabgabe die Hälfte ihres Vermögens eingezogen hatte, wurden ihnen sämtliche Freibeträge gestrichen und von Jahr zu Jahr immer mehr Sonderabgaben erhoben.

Die Finanzämter waren schließlich sogar dafür zuständig, dass sämtliches Hab und Gut, das die in die Vernichtungslager Deportierten zurückließen, öffentlich versteigert wurde. Jeder "Volksgenosse" konnte jüdisches Eigentum erwerben. Das war sogar erwünscht, um die leere Staatskasse aufzufüllen. Wie groß der Andrang bei den so genannten Judenauktionen war, belegen Protokolle, die von den über 10.000 Versteigerungen allein in Frankfurt erhalten sind und die im Hessischen Hauptstaatsarchiv Wiesbaden liegen. Auch dies wird in dem Dokumentarfilm exemplarisch erläutert.

i Vorführung des Films des Hessischen Rundfunks „Der große Raub“
Dienstag, 6. Mai 2014, 19:30 Uhr im Saal des Alten Amtsgerichts Zwingenberg
Veranstalter: Arbeitskreis Zwingenberger Synagoge e.V.

Artikel des "Bergsträßer Anzeiger" vom 8. Mai 2014

Rechtlichen Schein stets aufrechterhalten
Aufarbeitung: Arbeitskreis Synagoge beleuchtete die gesetzlich geregelte Enteignung hessischer Juden / Ein Film des HR schlägt Akten auf

Von unserem Mitarbeiter Thomas Tritsch

Zwingenberg. Allein in Frankfurt gab es innerhalb von zwei Jahren mehr als 5000 Versteigerungen. Unter dem Hammer enteigneter Besitz jüdischer Familien, die vom Nazi-Regime um ihr Vermögen gebracht wurden. Man hatte es ihnen nicht aus den Händen gerissen, sondern "ganz legal" per Gesetz eingezogen. "Es war ein langsamer Verwaltungsprozess, der den Anschein bürokratischer Korrektheit wahren sollte", sagt der Filmemacher Henning Burk, der mit dem Filmautor Dietrich Wagner eine Dokumentation über die Ausplünderung jüdischer Familien in Hessen gedreht hat.

Filmemacher in Zwingenberg
Am Dienstag waren die Filmemacher in Zwingenberg. Der Arbeitskreis Synagoge hatte ins Alte Amtsgericht eingeladen, wo Dr. Fritz Kilthau zahlreiche Gäste begrüßte. Die Produktion "Der große Raub" zeichnet die Ausplünderungen ab 1933 akribisch nach, lässt Zeitzeugen und Wissenschaftler zu Wort kommen - und er schlägt die Akten auf, die so lange unbeachtet in den Staatsarchiven verstaubten. Dabei hätte man jederzeit lesen können, wie organisiert, perfide und verzahnt sich der Staatsapparat das Vermögen der Juden angeeignet hat.
Die Komplizen des organisierten Raubzugs waren Finanzbeamte und Verwaltungsmitarbeiter, aber auch die ganz normalen Schnäppchenjäger und "Aasgeier", so eine Zeitzeugin, die sich an den NS-Gesetzen bereichert haben. "Wir müssen uns spätestens jetzt fragen, welche Familiengeschichten wirklich hinter so vielen Erbschaften verborgen sind", so Dietrich Wagner in Zwingenberg.

Tafelsilber und Einmachgläser
Wie groß der Andrang bei den sogenannten "Judenauktionen" war, belegen Protokolle, die von den insgesamt über 10 000 Frankfurter Versteigerungen im Hessischen Hauptstaatsarchiv Wiesbaden vorhanden sind. Nicht nur Möbel, Bücher und Tafelsilber, selbst Einmachgläser, Salzdosen und Mehlsäcke wurden öffentlich unters deutsche Volk gebracht. Die Juden waren von den Aktionen ausgeschlossen. Einige ließen Bekannte die konfiszierten Gegenstände gleichsam zurück kaufen. Für sie ging es damals längst darum, nicht ihr Vermögen, sondern ihr Leben zu retten.
Einer von ihnen war Robert Goldman, der mit seiner Familie von der Bergstraße nach Frankfurt gezogen war. In der Pogromnacht des 9. November 1938 wurde die väterliche Arztpraxis demoliert. Die Familie konnte emigrieren, doch vom einstigen Vermögen waren noch zehn Reichsmark geblieben. Charlotte Opfermann aus Wiesbaden wurde ins Lager Theresienstadt deportiert. Ihre Familie musste für die Unterbringung in dieses "Reichsaltersheim" auf Jahre im Voraus ein monatliches "Pflegegeld" bezahlen.
Der rechtliche Schein wurde stets aufrechterhalten. Bereits durch Inkrafttreten der so genannten Reichsfluchtsteuer Ende 1931 wurden "bei Aufgabe des inländischen Wohnsitzes" 25 Prozent des Vermögens fällig. Zehn Jahre später wurde sie von Heinrich Himmler zur Enteignung der Juden instrumentalisiert. Auswanderung, das war auch die Flucht vor den Verfolgern. Neben der Steuer wurde den Juden aber auch gesetzlich verboten, das weitere Vermögen und Besitztümer ins Exil mitzunehmen. Die Freigrenze für Devisen wurde 1934 auf zehn Reichsmark festgesetzt.
"Da waren nicht nur Judensterne und zertrümmerte Fensterscheiben, sondern auch Gesetze und Verordnungen", so die Filmemacher über den schrittweisen Prozess administrativer Drangsalierungen. Immer mehr Sonderabgaben wurden eingeführt. Der Anschein von Rechtmäßigkeit half dabei, die Staatskassen zu füllen. Und erleichterte es vielen Deutschen, nicht zu fragen, woher das geerbte Klavier, der Schreibtisch vom Onkel oder die Großvaters Gemäldesammlung wirklich kamen.

Ex-Minister Karl Starzacher: Sehr viele haben gewusst, was tatsächlich vor sich ging
Jahrzehnte blieben die Aktenschränke zu. Erst eine Ausstellung von Prof. Dr. Wolfgang Dreßen, die 1998 im Düsseldorfer Stadtmuseum unter dem Titel "Betrifft: Aktion 3" eröffnet wurde, rückte die fiskalische Ausplünderung der Juden im Nationalsozialismus erstmals ins Blickfeld einer weiteren Öffentlichkeit. Gezeigt wurden Unterlagen aus dem Bezirk der Oberfinanzdirektion Köln, die eine systematische administrative Enteignung belegen.

Bundesweite Debatte ausgelöst

Doch die Ausstellung löste schnell eine bundesweite Debatte aus: Denn sie warf nicht nur einmal mehr die Frage auf, was die deutsche Bevölkerung von der Ermordung der Juden tatsächlich gewusst hatte. Es ging auch darum, ob es sich bei den Dokumenten um Steuerakten handelte, die dem Steuergeheimnis unterlagen, oder um Quellen der historischen Forschung, die zugänglich sein müssen.
Für Karl Starzacher keine Frage: "Es ging um Akten des Nazi-Regimes, allein das war Grund genug, die Dokumente offen zu legen." Starzacher war von 1995 bis 1999 Hessischer Finanzminister. Er wies seine Behörden an, in ihren Beständen nach NS-Unterlagen zu suchen und die Notizen des Raubzugs zu beschlagnahmen. Im Dezember 1998 übergab er vier Aktenkonvolute der ehemaligen Reichsfinanzverwaltung aus dem Archiv der Oberfinanzdirektion Frankfurt an die Frankfurter Jüdische Gemeinde. Deren damaliger Vorsitzender Ignatz Bubis habe ihm daraufhin gesagt: "Es war bekannt, aber keiner hat daran gedacht." Die Wissenschaftler des Frankfurter Fritz-Bauer-Instituts werteten die Unterlagen aus und initiierten 2002 die Ausstellung "Legalisierter Raub" in Zusammenarbeit mit dem Hessischen Rundfunk. Derzeit gastiert sie in der KZ Gedenkstätte Osthofen.

Minutiös und skrupellos

Über 50 Jahre nach Kriegsende wurde deutlich, dass die Einziehung und Verwertung von Vermögen der Deportierten von der Reichsfinanzverwaltung - und ihren Ausläufern vor Ort - minutiös, reibungslos und ohne jede Skrupel administriert worden war. Die Bediensteten haben mit "bürokratischer Penibilität" alles erfasst, so Starzacher. Jeder Besitz lasse sich daher exakt zuordnen und nachverfolgen. Denn die Juden waren gezwungen, ihr Hab und Gut detailliert aufzulisten. "Bis zum kleinsten Kaffeelöffel", so der Ex-Minister, der die Akteneinsicht als beklemmende Erfahrung kommentiert. Bei den öffentlichen Versteigerungen ihrer letzten Habseligkeiten sei der Zulauf "außerordentlich groß" gewesen. Karl Starzacher: "Sehr viele haben gewusst oder haben wissen können, was tatsächlich vor sich ging." Und nicht wenige haben von der Vertreibung der Juden profitiert, die - das schließt er daraus - nicht von einem kompakten Kreis an Nazis, sondern von einem riesigen Verwaltungsapparat regelrecht abgewickelt worden sei. Dass diese Gewissheit nach wie vor nicht in jedem Kopf angekommen ist und die Aufarbeitung der Judenverfolgung noch heute an manche geistige Barriere stößt, wollte Starzacher in Zwingenberg nicht unerwähnt lassen: "Ich wurde mehr als
einmal gefragt, warum ich die Akten nicht ruhen lasse und lieber danach fragen soll, wie die Juden zu ihrem ganzen Gold gekommen seien." tr
© Bergsträßer Anzeiger, Donnerstag, 08.05.2014
zurück